Projekt Scheibenwelt
 

Scheibenwelt 

 

Als die Welt keine Scheibe war 

schillerten die Straßen. 

Worte wie Insekten, in Schwärmen, vereinzelt, 

plump die einen, anmutig die anderen, 

taumelten, schwirrten, ballten sich und landeten 

auf Blüten oder überreifen Früchten. 

 

noch nicht durchspießt, glanzlos, 

spröde aufgereiht 

hinter der Scheibe. 

 

Als die Welt keine Scheibe war, 

drang Musik aus den Häusern 

und Turmuhren schlugen, 

stieß der Wind durchs Fenster 

und wehte Papier von den Tischen. 

Wir mahnten ihn, lachten, 

Bleib draußen!, riefen wir. 

Wir redeten mit dem Regen, 

mit der Nacht und mit Fremden, 

deren Lächeln uns streifte. 

 

Menschen rempelten, drängten, 

schlugen sich auf die Schulter, 

umarmten sich, 

schubsten einander, 

eine strudelnde Menge, 

Menschen rochen, 

spuckten beim Reden, 

wandten sich ab oder zu, 

schimpften, brüllten und flüsterten 

 

sangen. Ja, manche sangen! 

Oder summten nur. 

Wir konnten uns auch schlagen. 

 

 

Noch nicht 

spröde 

aufgespießt 

auf der Scheibe Midgards 

von der Schlange bewacht, 

die sich in den Schwanz beißt. 

 

Als die Welt keine Scheibe war 

durchmaßen Füße Distanzen 

und Hände spürten Hände 

Wir redeten im selben Raum, 

doch jeder besaß seine eigenen Worte. 

 

Unsere Welt, zur Scheibe gepresst, 

fasst nur dünne Gedanken, 

schmale Antworten auf flache Fragen 

gleiten reibungslos 

darüber hinweg und wir sind alle 

verbunden in der Tiefebene unseres 

Nichtmehrdenkens. 

 

Tiefer gesunken als der Meeresspiegel. 

 

Der Pegel steigt unaufhaltsam, 

Wasser bis zur Hüfte reden wir 

noch blind von Bergen, 

deren Namen uns in großen 

Lettern auf der Scheibe prangen. 

 



 

Analog 

 

Aber mir wurde 

ein Eidechsenkind in die Hand geboren 

aus einem Ei groß wie ein Daumennagel 

und ebenso perlschimmernd rosa. 

Schwarzfeucht glitt es aus der pergamentenen Schale, 

als sie barst, nicht brach, 

lag reglos, ein kraftvoll geschwungenes S, 

vier stille Beinchen, 

sog meine Wärme ein, 

bis es sich regte, wand, 

und ich mich niederkauerte, 

es freizugeben. 

Es huschte fort, ganz neu und doch schon kundig 

dieser Welt seiner reptilen Ahnen. 

 

Die leere Schale verklebt 

wie Papier. 



 

 

Ich habe den Hasen gesehen, 

der mit Rehkitzen spielte. 

Im ersten Morgengrün der Frühlingswiese, 

jagten sie einander 

in weiten Kreisen. 

Ein rotes Kätzchen wurde mir 

tot in die Hand geboren. 

Meine Finger massierten das stumme Herz 

gemeinsam mit der Zunge der Mutter. 

Ich trug es hinaus und begrub es 

unter Blüten und Stein. 

 

Aber ich weiß, wie ein Bienenschwarm summt 

im forschen Vorüberziehen, wie mit klarem Ziel, 

eine Wolke aus tausend Leibern, ein Wille, ein einziger Ton, 

wie ein brauner Kamm, der die Luft 

zwischen seinen Zinken zum Flirren bringt: 

wie jeder Bienenschwarm klang, 

vor hundert Jahren, vor tausend, 

wie den Phöniziern, den Thrakern, 

den Babyloniern 

und allen Honigspeisenden der Menschheitsgeschichte. 

 

 



 

Ich kenne das Gewicht gebrochener Eichenäste. 

Gewalt und Stille, Stille und Gewalt. 

 

Die Nachtigall, ihre schimmernden Töne aufgereiht 

wie Süßwasserperlen an endloser Schnur, 

ein Echo vom Bach her, und die Stille zwischen den Strophen tiefer 

als das Schweigen nach nächtlichem Schuss. 

 

Und ich habe nach Eisregen 

das trockene Knistern der Zweige gehört, 

wenn ein Windstoß hineinfuhr 

sie in Schwanken versetzte, 

und die zarte Hülle leise 

an tausend Stellen gleichzeitig 

wie eine Eierschale brach. 

 

Gewalt und Stille, Stille und Gewalt, 

manchmal zerschlagen Rotoren die Luft über den Wipfeln 

wie Künder des Endes, und schwarze, stählerne Dämonenpfeile 

brüllen über uns hinweg, dass alles sich duckt und der Herzschlag 

aller Wesen sekundenlang schweigt. 

 

Wir 

kurz aufscheinend zwischen dem was war und was sein wird und immer, 

immer ist. 

 

 



 

 

 

 


 

Hinter der Scheibe: 

ein Bällchenbad für die Menge, 

in dem sie planscht, 

ohne nasszuwerden, 

keiner muss schwimmen können. 

Ein Bad, eingelassen von einer Sippe 

rattengesichtiger 

Flötenspieler. 

 

Als fräße man sich 

mit einem großen Löffel 

durch die gewaltigen Töpfe 

einer freudlosen Großküche. 

 



 

Taktloser Tanz 

 

Zerschmettert die Metronome. 

Zerbrecht die Taktstöcke. 

Macht alle Trommler besoffen, 

und will einer euch die wahren Schritte lehren, 

schickt ihn hinab in den Keller. 

Er soll mit Asseln und Mäusen tanzen. 

 



 

 

Ich habe das Rauschen der Starenschwärme gehört. 

In meinen Händen habe ich einen verletzten Specht getragen, 

dessen Schnabelkeil kraftlos gegen meine Fingerknöchel fuhr. 

Jenen Häher habe ich gehört, 

der die Sprache der Bussarde spricht. 

 

Der gelbe, ernste Blick des Hasen, 

der sich – viel zu groß! – vor mir aufrichtete, 

die zahllosen Braun-Grau-Gelbtöne 

seines melierten Pelzes. 

 

Ich spürte, 

wie Rabenflügel 

durch die Luft ruderten. 

 

Ich weiß, wie entschlossen 

eine nur stopfnadeldicke Eiche 

sich in die Erde klammert. 

Ich finde die geheimen Keimblätter der Meerrettichwurzeln im Boden. 

Ich kenne die Fußangeln der Brombeeren, 

ihre gewandten, roten Schlingen. 

Ich sah Laub zu Erde werden 

und Erde zu Stein. 



 

Der Barfußgeruch der Sommerwiese. 

Der Pilzgeruch nassen Lindenlaubs. 

Terpentinduft der besonnten Tannen. 

Schwere Gare unter Zwetschgenbäumen, 

trunkene Wespen, Hornissen. 

Die Beize des Katerurins in Scheunenwinkeln. 

 

Der hohle Aufschlag reifer Äpfel im Gras. 

Das Klackern fallender Eicheln auf Steinwegen. 

Das Lachen der Spechte im Nussbaum. 

Tremolobausch aus tausend Hummelleibern, süßlich dünstend: 

die blühende Linde 

 

Der Dämonenschrei der Marder, 

ein nicht deutbarer Laut im Schwarzdunkel der Nacht, 

Tier Vogel Geist Traum. 

Scharf geschnittener Vollmondschatten auf Schnee 

Rote Scheibe, groß, zu groß, über den Hügeln. 

 



 

IV 

 

Und immer wieder Licht, 

rosig, orange, grell leuchtend, mild, milchig weiß, 

harte Konturen, weichgezeichnet, 

glänzend die Blätter, staubig im Pollenpulver, 

schwärzlich unter Gewitterdräuen. Der Sturm, 

der Bäume bricht und Blitze, 

wie Degenhiebe durch elektrisierte Luft. 

 

Regenbögen, verheißend aufgespannt über die Dörfer, die Kirche dort unten, 

verblassend bereits. 

 

Und die Sterne! 

Immer wieder die Sterne! 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



 

Später Abend 

 

Die Narren schlafen schon 

auf ihren Pudelhaarmatratzen. 

Ihre dumpfen Flimmerträume 

behalten sie für sich 

zum Glück. 

Ja, zum Glück 

ruhen ihre Glieder quallenschlaff 

weisen ihre Sepiafinger keinen, 

treten ihre Füße keinen in den Sand. 

Hohl baumeln 

die Seidenhäute 

ihrer freien, ihrer unfreien Zeit, 

in den kalten Schränken. 

Nur die geschorenen Pudel 

auf ihren nackten Bäuchen 

frierend wachend wissen, 

auch diese Stunde lebt. 



 

Papier 

 

Der Traum vom giftigen Papier. 

Ich vergifte mich beim Schreiben. 

Die Bösen 

streuen Geldscheine auf die Straße. 

Die Dummen 

vergiften sich beim Aufheben der Scheine. 

Der Anführer der Dummen 

unterzeichnet mit den Bösen 

einen Friedensvertrag, 

aber das Papier, 

das er in der Hand hält, 

ist ebenfalls 

vergiftet. 

 



 

Regen 

 

Bedacht lebte ich 

Tage Wochen 

in einer engen Welt des Regens, der 

aus tosenden Wolkenwogen herab 

durch dichte Baumkronen gischtete und 

Wiesen und Gärten tauchte, 

der neonleuchtendes Algengrün 

über Mauern und Steine schob. 

Regen, 

der die Blüten der Kirschbäume zerschlug 

ihren zarten Duft aus der Luft wusch; 

Wühlmäuse ersoffen in ihren Bauten, 

doch Schnecken erklommen die Wände. 

Blumenzwiebeln faulten im gehämmerten Boden, 

Saatgut verweste, 

Moder stieg in die Bäume, 

doch Flechten erblühten auf kahlen Zweigen. 

Tauben, geplustert, hockten trübe 

unter dem Vordach, 

doch Molche, schwarz mit grell leuchtenden Bäuchen, 

wanderten über den gepflasterten Hof. 

 

Ein Frosch saß im Keller. 

 

Der Bach wuchs und rauschte lauter 

von Tag zu Tag 

er stürzte den Abhang hinunter, Bäume umspülend, 

Inseln schaffend und flutend. 

Schmutzig stand 

das lohfarbenen Reh mit seinen Tüpfelkitzen, 

die Köpfe gesenkt, 

Regen rann ihre schlanken Hälse hinab. 



 

 

Dornenkraut gedieh in den Gräben 

und Moos schäumte auf. 

 

 

Grashalme klebten im Lehm 

und Schauerböen schlugen blindings in Getreidefelder 

wie irre Fäuste. 

Der Regen, 

der sich die Welt nahm, 

sie umspülte 

und dann widerwillig 

ins Dämmerlicht entließ. 

 

Das Pflaster trocknete 

und blieb schwarz. 

Was wir dachten, blieb Nebel. 

Was wir taten, war Staub. 

 



 

Gewitter 

 

Schweres Donnergrollen 

hinkt hinter den Blitzen her, 

die sich vor die dunkle Nacht werfen 

und Bäume erscheinen lassen 

kurze Projektionen, 

eingeblendete Bilder, kaum sichtbar, 

länger in Erinnerung 

als tatsächlich zu sehen. 

Der schwingende Donner 

zeichnet die Form der Landschaft, 

indem er wie eine Kugel 

über Höhen und Täler rollt, 

als sei der Blitz die Hand, 

die eine Bowlingkugel in unsere Richtung warf, 

und wir sind die Kegel, 

alle Neune, 

wir stehen da 

die Kugel läuft weit vor uns aus ins Nichts; 

erbost wirft die Blitzhand gleich die nächste hinterher; 

der Regen wischt die Ergebnisse von der Tafel 

und schwemmt die Ruhe des Sommertags davon 

in die gerissene Erde hinein. 

Der Mond, fast rund, stand eben noch 

besah sich das aufziehende Schauspiel, 

hat sich verhüllt, 

geht seinen Weg unter der Tarnkappe, 

so weit weg von den Wolken, 

so weit weg für uns, 

die wir ihn darin tauchen sehen, 

als ruhe er auf den sanften Kissen, 

als schiebe er sie mit väterlicher Geduld beiseite, 

um seiner Wege zu gehen. 

 

Noch bebt der Boden 

vom fernen Dröhnen des Donners, 

und der Widerschein der Blitze 

zeigt den leeren Himmel.
 Früher Morgen 

 

Geträumter Alp 

krallt noch im Vorhang 

mit schlaffen Zitterflügeln. 

 

Blass beugt der Tag sich über mich 

prüft mit dem runden Spiegel 

meinen Atem. 

 

Sieben Wünsche. 

Sieben Wünsche ducken sich 

in ihren Eierschalen. 

 

Mag die Sonne sie frei brüten 

während ich noch einmal 

hinabsteige. 

 



 

 

Miniaturen 

 

 

Diese Zeit, 

diese merkwürdige Zeit, 

mit ihren kalten Händen – 

sie versucht, 

sich am Verbrennen des Alten zu wärmen. 

 

Diese Zeit, 

die uns die Worte 

aus dem Mund frisst. 

 

 

Der Boden unter den Füßen, 

der nicht wankt, 

sondern sich 

beinahe unmerklich 

verschiebt. 

 

Der Moment des Erwachens, 

in dem Traum und Realität 

einander ratlos in die Augen sehen. 

 



 

Es ist alles 

zersagt. 

 

Die Blätter sind weiß 

wer da fällt 

wer da fliegt 

wer da geht 

wer da liegt. 

kennen wir kaufen wir. 

Die Glühwürmchen sind längst gelöscht. 

Der Satellit zieht stumm den endlosen Kreis, 

sonnengespeist sein Flug, 

er kennt alle Orte aus der weitest denkbaren Ferne, 

kennt doch die weißen Steine nicht, 

gesammelt in Jutetaschen, made in anywhere, 

wo Waren wachsen aus verbrauchten Böden, 

so bunt und dabei so kalt und blassgelb 

nur blassgelb, ach, wer braucht sie denn noch, 

die Schwalbenschwänze mit ihrem fahlen 

Leuchten, ins Feuer stürzen sie 

die alten Bücher mit den getupften 

Fliegenpilzen 

 



 

 

Die roten Geschwader der Feuerwanzen, versammelt 

auf einem alten Holztor, das die Sonne heizte. 

Das lockere, doch so präzise Geflecht der Kranichschwärme aus Nordosten, 

die Bugwellen ihrer heiseren Rufe. 

Raureif an den Radspinnennetzen, schwankend an Halmen mit 

geleerten Ähren, im ersten Dunstlicht des Wintermorgens. 

Das Plaudern der Wanderer, wie es sich nähert und streift und weht und 

davonzieht in Weite. 

 

Wir haben uns fragend in die Augen gesehen, 

verharrend außerhalb der Zeit: 

Mensch/Hase/Reh/Fuchs/Huhn/Rabe 

verbunden im Leben und einer 

nicht nicht nicht 

ahnend das Bild des anderen. 

 

Wir alle lieben das Licht. 

 

 

 



 

 

 

Funken über dem Feuer in den Nachthimmel kreiselnd, 

lohende Scheite, manche schwefelgelb oder bläulich glosend, 

am Morgen danach noch leise knackend 

wie frisch gebackenes Brot, und ein Luftflimmern 

über der Asche.