AUSZÜGE AUS DEM PROJEKT "SCHEIBENWELT"
Analog
Aber mir wurde
ein Eidechsenkind in die Hand geboren
aus einem Ei groß wie ein Daumennagel
und ebenso perlschimmernd rosa.
Schwarzfeucht glitt es aus der pergamentenen Schale,
die mehr barst als brach,
und lag reglos, ein kraftvoll geschwungenes S,
vier stille Beinchen,
sog die Wärme meiner Haut in sich ein,
bis es sich regte, wand,
und ich mich schnell ins Gras hockte,
um es vor Absturz zu schützen.
Es huschte davon, ganz neu und doch schon kundig
auf der Welt seiner reptilen Ahnen.
Die leere Schale verklebt wie Papier.
Und ich habe nach Eisregen
das trockene Knistern der Zweige gehört,
in zartesten Mantel gekleidet,
wenn der erste Windstoß hineinfuhr
sie in Schwanken versetzte,
und die feine Hülle leise
an tausend Stellen gleichzeitig brach.
Ich habe einen Hasen gesehen,
der mit Rehkitzen spielte.
Im ersten Morgengrün der Frühlingswiese,
jagten sie einander
in weiten Bögen.
.
Ein rotes Kätzchen wurde mir
tot in die Hand geboren.
Meine Finger massierten das stumme Herz
gemeinsam mit der Zunge der Mutter.
Ich trug es hinaus und begrub es
unter Blüten und Stein.
Aber ich weiß, wie ein Bienenschwarm summt
im forschen Vorüberziehen, wie mit klarem Ziel,
eine Wolke aus tausend Leibern, ein Wille, ein einziger Ton,
wie ein brauner Kamm, der die Luft zwischen
seinen Zinken zum Flirren und Beben bringt:
wie jeder Bienenschwarm klang,
vor hundert Jahren, vor tausend,
wie den Phöniziern, den Thrakern,
den Babyloniern
und allen Honigspeisenden
der Menschheitsgeschichte.
Ich habe das Rauschen der Starenschwärme gehört.
Meine Finger haben in eine Spalte gegriffen
und an kalter Krötenhaut gezuckt.
In meinen Händen habe ich einen verletzten Specht getragen,
dessen Schnabelkeil kraftlos gegen meine Fingerknöchel fuhr.
Jenen Häher habe ich gehört,
der die Sprache der Bussarde spricht.
Ich wollte eine dünne Blindschleiche fassen,
und hielt
erschrocken
die Schwanzspitze einer großen, kräftigen,
losgelöst, zuckend, sich windend, zwischen den Fingern.
Der gelbe, ernste Blick des Hasen,
der sich – viel zu groß! – vor mir aufrichtete,
die zahllosen Braun-Grau-Gelbtöne
seines melierten Pelzes.
Ich spürte mehr als ich hörte,
wie Rabenflügel
durch die Luft ruderten.
Ich weiß, wie entschlossen eine
gerade stopfnadeldicke Eiche
sich in den Boden klammert.
Ich finde die geheimen Keimblätter der Meerrettichwurzeln im Boden.
Ich kenne die Fußangeln der Brombeeren,
ihre gewandten, roten Schlingen.
Ich sah Laub zu Erde werden
und Erde zu Stein.
Und immer wieder Licht,
rosig, orange, grell leuchtend, mild, milchig weiß,
harte Konturen, weichgezeichnet,
glänzend die Blätter, staubig im Pollenpulver,
schwärzlich unter Gewitterdräuen. Der Sturm,
der Bäume bricht und Blitze,
wie Degenhiebe durch elektrisierte Luft.
Regenbögen, verheißend aufgespannt über die Dörfer, die Kirche dort unten,
verblassend bereits.
Und die Sterne!
Immer wieder die Sterne!
Der Barfußgeruch der Sommerwiese.
Der Pilzgeruch nassen Lindenlaubs.
Terpentinduft der besonnten Tannen.
Schwere Gare unter Zwetschgenbäumen,
trunkene Wespen, Hornissen.
Die Beize des Katerurins in Scheunenwinkeln.
Der hohle Aufschlag reifer Äpfel im Gras.
Das Klackern fallender Eicheln auf Steinwegen.
Das Lachen der Spechte im Nussbaum.
Der Dämonenschrei der Marder,
ein nicht deutbarer Laut im Schwarzdunkel der Nacht,
Tier Vogel Geist Traum.
Scharf geschnittener Vollmondschatten auf Schnee
Rote Scheibe, groß, zu groß, über den Hügeln.
Ich habe über langbeinige Winterschatten gelacht
und um den Kleiber geweint, der gegen ein Fenster prallte
und von meiner Hand aus ein letztes Mal
in den echten Himmel sah.
Ich habe dem Spiel der Wiesel zugesehen,
ihre spitzen Gesichter, die zwischen geschichtetem Altholz aufblitzten,
ein Jungenlachen in jeder Bewegung.
Funken über dem Feuer in den Nachthimmel kreiselnd,
lohende Scheite, manche schwefelgelb oder bläulich glosend,
am Morgen danach noch leise knackend und ein Luftflimmern
über der Asche.
Die roten Geschwader der Feuerwanzen, versammelt
auf einem alten Holztor, das sich im Sonnenlicht aufheizte.
Das lockere, doch so präzise Geflecht der Kranichschwärme aus Nordosten,
die Bugwellen ihrer heiseren Rufe.
Raureif an den Radspinnennetzen, schwankend an Halmen mit
geleerten Ähren, im ersten Dunstlicht des Wintermorgens.
Das Plaudern der Wanderer, wie es sich nähert und streift und weht und
davonzieht in Weite.
Wir haben uns fragend in die Augen gesehen,
verharrend außerhalb der Zeit:
Mensch/Hase/Reh/Fuchs/Huhn/Rabe
verbunden im Leben und einer
nicht nicht nicht
ahnend das Bild des anderen.
Wir alle lieben das Licht.
Ich kenne das Gewicht gebrochener Eichenäste.
Gewalt und Ruhe, Ruhe und Gewalt.
Die Nachtigall, ihre schimmernden Töne aufgereiht
wie Süßwasserperlen an endloser Schnur,
ein Echo vom Bach her und die Stille zwischen den Strophen tiefer
als das Schweigen nach nächtlichem Schuss.
Gewalt und Stille, Stille und Gewalt,
manchmal zerschlagen Rotoren die Luft über den Wipfeln
wie Künder des Endes, und schwarze, stählerne Dämonenpfeile
brüllen über uns hinweg, dass alles sich duckt und der Herzschlag
aller Wesen sekundenlang schweigt.
Wir
kurze aufscheinend zwischen dem, was war, und was sein wird und immer,
immer ist.
Frisch gefallener Schnee am Abend mit dem kristallinen Geruch der Unschuld,
am nächsten Morgen ein Schnittmusterbogen, Zeugen des Belebtseins
in Ballen und Klaue und Kralle, Wege kleinster Wesen hineingeschnitzt,
und Gefiederreste dort,
wo ein Habicht in der ersten Dämmerung
eine Taube schlug.
Regen
Bedacht lebte ich
Tage Wochen
in einer engen Welt des Regens, der
aus tosenden Wolkenwogen herab
durch dichte Baumkronen gischtete und
Wiesen und Gärten tauchte,
der neonleuchtendes Algengrün
über Mauern und Steine schob.
Regen,
der die Blüten der Kirschbäume zerschlug
ihren zarten Duft aus der Luft wusch,
den Insektenflug hemmte;
Wühlmäuse ersoffen in ihren Bauten,
doch Schnecken erklommen die Wände,
ihre Welt war groß.
Blumenzwiebeln faulten im dicht gehämmerten Boden,
Saatgut verweste,
Moder stieg in die Bäume,
doch Flechten erblühten auf kahlen Zweigen.
Tauben, geplustert, hockten trübe
unter dem Vordach,
doch Molche, schwarz mit grell leuchtenden Bäuchen,
wanderten über den gepflasterten Hof.
Ein Frosch saß im Keller.
Der Bach wuchs und rauschte lauter
von Tag zu Tag
er stürzte den Abhang hinunter, Bäume umspülend,
Inseln schaffend und flutend.
Schmutzig wirkte
das lohfarbenen Reh mit seinen Tüpfelkitzen,
die Köpfe gesenkt,
Regen rann ihre schlanken Hälse hinab.
Dornenkraut gedieh in den Gräben
und Moos schäumte auf.
Grashalme klebten im Lehm
und Schauerböen schlugen blindings in Getreidefelder
wie irre Fäuste.
Der Regen,
der sich die Welt nahm,
sie umspülte
und dann widerwillig
ins Dämmerlicht entließ.
Ein Frosch saß im Keller.
Das Pflaster trocknete
und blieb schwarz.
Was wir dachten, blieb Nebel.
Was wir taten, war Staub.
Scheibe
Als die Welt keine Scheibe war
schillerten die Straßen.
Worte,
wie Insekten, in Schwärmen, vereinzelt,
plump die einen, anmutig die anderen,
taumelten, schwirrten, ballten sich und landeten
auf Blüten oder überreifen Früchten.
noch nicht durchspießt, glanzlos,
spröde
aufgereiht
hinter der Scheibe.
Als die Welt keine Scheibe war,
drang Musik aus den Häusern
und Turmuhren schlugen,
stieß der Wind durchs Fenster
und wehte Papier von den Tischen.
Wir mahnten ihn, lachten,
Bleib draußen!, riefen wir ihm zu.
Wir redeten mit dem Regen,
mit der Nacht und mit Fremden,
deren Lächeln uns streifte.
Menschen
rempelten, drängten,
schlugen sich auf die Schulter,
umarmten sich,
schubsten einander,
eine strudelnde Menge,
Menschen rochen,
spuckten beim Reden,
wandten sich ab oder zu,
schimpften
brüllten und flüsterten
sangen.
Ja, manche sangen!
Oder summten nur.
Wir konnten uns auch schlagen.
Noch nicht
spröde
aufgespießt
auf der Scheibe Midgards
von der Schlange bewacht,
die sich in den Schwanz beißt.
Als die Welt
keine Scheibe war
durchmaßen Füße Distanzen
und Hände spürten
Hände
Wir redeten im selben Raum,
doch jeder besaß
seine eigenen Worte.
Unsere Welt,
zur Scheibe gepresst,
fasst nur dünne Gedanken,
schmale Antworten auf flache Fragen
gleiten reibungslos
darüber hinweg und wir sind alle
verbunden in der Tiefebene unseres
Nichtmehrdenkens.
Tiefer gesunken als der Meeresspiegel.
Der Pegel steigt unaufhaltsam,
Wasser bis zur Hüfte reden wir
noch blind von Bergen,
deren Namen uns in großen
Lettern auf der Scheibe prangen.
Eine große Ameise fällt aus einem Grund,
den ich nicht erfahren werde,
aus dem Kirschbaum auf meinen bloßen Arm.
Es ist zwölf Uhr, Glockenläuten im Wind nur angedeutet.
Ein Sportflugzeug schlendert über den Himmel,
erinnert an Sommertage der Kindheit,
in einem früheren Leben,
in Gärten, die jetzt gerodet sind,
auf Terrassen von Gastgebern, die nicht mehr leben,
an Spaziergänge in einer Welt, die überschaubar war:
Hund, Pferd, Maus, Auto, Schiff, Flugzeug.
Eine Zeit, die
im Sommer zumindest
gut war.
Der Wind frischt auf.
Das Muster,
das die Kirschbaumzweige auf mein Schreibapier zeichnen,
bewegt sich,
zittert, schwankt, oszilliert, flackert.
Lufthauch an den bloßen Füßen
wie eine sanfte Strömung im Bach.
3 Miniaturen
Der Moment des Erwachens,
in dem Traum und Realität
einander ratlos
in die Augen sehen.
Diese Zeit,
diese merkwürdige Zeit,
mit ihren kalten Händen –
sie versucht,
sich am Verbrennen des Alten zu wärmen.
Der Boden unter den Füßen,
der nicht wankt,
sondern sich
beinahe unmerklich
verschiebt.